Warum Tuch?
Nachdem Großindustrie die Handwerksbetriebe verdrängt hat, darf
man froh sein, daß überhaupt noch Zirkuszelte hergestellt werden und
nicht nur noch Industriehallen, beschönigend "Veranstaltungszelte"
genannt, die allein nach überbauter Nutzfläche mal Stapelhöhe
honoriert werden, bestenfalls noch nach Aufbaugeschwindigkeit und
Dauerhaftigkeit - Standfestigkeit und Sturmsicherheit verlangt der
TÜV von allen gleichermaßen. Demgegenüber zeichnen sich moderne
Zirkuszelte immerhin schon durch ihre originelle Form aus. Das
nostalgische Image, das dem Begriff "Zirkus" vorauseilt, gibt's
gratis dazu.
Wer nichts anderes gewöhnt ist als Schwimmhallenakustik mit
schamhaft wahllos aufgesprühten Sternen oder gar Dinos, die dann
doch noch eine gewisse Identität vermitteln sollen, mag damit
zufrieden sein. Und ich kann Bernhard Paul verstehen, dessen
Verdienst es ist, großen Zirkus (Roncalli) neu erfunden zu haben und
leben zu lassen, daß er inzwischen pragmatisch auf moderne
Flächentragwerke setzt, das ist in dieser Größenordnung konsequent
und unvermeidbar. Aber wer in etwas kleinerem Rahmen Show und Zelt
als Gesamtkunstwerk in einem meiner Zelte erlebt hat, versteht,
warum ich mich an die an Selbstaufgabe grenzende Arbeit gemacht
habe, traditionelle Vorlagen nachzunähen.
Nähen und Nähmaschinen (vor allem die großen) haben mich schon immer
begeistert, aber neben dem ganz speziellen Know-how, das ich gerade
noch sterbenden Betrieben entlocken konnte, war es schon schwierig,
überhaupt in dieser Größenordnung an die Materialien (nicht nur das
Segeltuch) zu gelangen, und es ist natürlich schon ein Zugeständnis,
daß es sich dabei um ein Baumwoll-Polyester Mischgewebe handelt, was
aber in diesem Fall, da das Material dadurch tatsächlich nur
hervorragende Eigenschaften gewinnt und dennoch Segeltuch bleibt,
der Sache keinen Abbruch tut. Genauso habe ich auf
Manila-Langhanfseile verzichtet und mich wegen Festigkeit und
Bezahlbarkeit für Polypropylen entschieden.
Aber es mag bitte niemand diese Zelte mit großindustriell
gefertigten Plastikzelten vergleichen. Es wäre schön, wenn meine
Zelte nicht in Sammler-"Schubladen" ein Scheinleben führten, sondern
wenigstens hin und wieder auch öffentlich sichtbar aufgebaut würden.
Deshalb habe ich mich, obwohl die Preise naturgemäß höher liegen als
die industriell gefertigter Kunststoffzelte, darum bemüht, die
Preise am Gebrauchswert zu orientieren. Ich verkaufe das naturelle
Zelt mit dem höchsten Sammlerwert deutlich günstiger, auch weil das
blaue Zelt genauso handwerklich hergestellt ist, wenn auch nicht
mehr in einem Traditionsbetrieb sondern mühsamer als Einzelstück.
Das soll aber nicht mehr als eine Chance zu wahrem Leben sein, die
ich den Zelten mitgebe. Selbstverständlich hat der Erwerber nach
vollständiger Bezahlung das Recht, damit zu tun, was er will und für
richtig hält. Bisher habe ich das Ansinnen einer Filmproduktion,
eines meiner Zirkuszelte für den einmaligen Effekt gegen gute
Bezahlung abzufackeln, mit der Begründung ausgeschlagen, daß ich
beim Vermieten Geld bekomme und das Zelt doch behalte. Jetzt muß ich
es hergeben, weil ich keinen Nachfolger habe. Und so wollte ich in
diesem Fall nur eins: Dabeisein und richtig heulen.
Denn die Zelte und ich haben viel zusammen
erlebt!